Der Flexibilitätstest

Intellektuelle Stimulation ist äußerst wichtig für die Vitalfunktionen des Gehirns. Dazu gehört auch die stete Prüfung der Flexibilität. So kam die Bahn auf die Idee, die S-Bahn, die stets von Gleis 1 fährt – oder soll ich fuhr sagen – nun vom Sondergleis 1a fahren zu lassen. Wer den Bahnhof in Halle kennt, wird wissen, wovon ich rede. Aber für alle anderen sei gesagt, er ist nicht durch einfaches Umdrehen und Zwei-Meter-Gehen auf die andere Seite der Plattform zu erreichen. Stattdessen sieht man perfiderweise über das leere eigene Gleis auf die gewünschte S-Bahn, ohne zu wissen, dass es die ist, die dazu bestimmt ist, einen aus der morgendlichen Winterkälte vom zugigen Bahnsteig in ihre wohlige Wärme beplüschter Sessel aufzunehmen und in das gut beheizte Büro zu transportieren. Und während man sich darüber ärgert, dass die eigene Bahn noch nicht einmal am Horizont zu sehen ist, schaut man neidisch verträumt der so lang betrachteten Bahn mit all den Menschen darin – von denen manche einen mit weit aufgerissenen Augen anstarren und sich mehr oder weniger aufgeregt und amüsiert unterhalten, während sie ihre Blicke immer wieder auf mich und die anderen beiden hier auf dem Bahnsteig werfen – beim Ausfahren nach und erblickt am Ende des Zuges ein Leuchtschild, das erstaunlicherweise alle Buchstaben und Zahlen in der korrekten Reihenfolge geordnet zeigt, die die eigene Bahn zeigen sollte „S3 L – Connewitz“ und verspürt plötzlich tiefe Trauer über die wertvollen Minuten, die man unnötig zu früh aufgestanden ist und zu lange hier noch herumstehen werden muss. Sicher, der geübte Blick hätte auf der Anzeigetafel auf dem Bahnsteig die auf blauem Hintergrund in einem fetten weißen Block hervorgehobene Zusatzinformation „Fährt heute von Gleis 1a“ lesen können. Sicher hätte das einfache, nicht in Gedanken und Überlegungen versunkene Gemüt die wiederholten Lautsprecherdurchsagen mit dem selben Hinweis und dem Signalwortzusatz „Achtung“ hören können. Aber der eingefleischte, der professionelle, der Vollblutpendler guckt, liest und hört nicht. Er weiß. Und dieses Wissen kann auch seinen Preis haben. Und der Preis, den ich an diesem einen Morgen zahlte war, dass ich zusammen mit den beiden anderen Profis zum Gespött der gut gefüllten und höchst amüsierten Bahn geworden bin, die gerade abfuhr und weitere 20 Minuten in der Kälte warten durfte.

Nach einigen lockeren professionellen Gesprächen mit Schaffnern stellt sich heraus, dass das Gleis 1a wohl jetzt immer genutzt werden soll. Aber ich bin lernfähig, denn seit jenem Tage traue ich niemandem mehr und schaue, sobald ich am Bahnhof ankomme, auf die Anzeigetafel und halte Ausschau nach eben dieser Zusatzinformation und zeige mich jovial, indem ich borniert und stur auf Gleis 1 zulaufende Ignoranten darauf hinweise, dass die Bahn vom Sondergleis 1a fährt. Nach einer Weile bemerke ich, dass die Anzeigetafel am Aufgang zum Gleis defekt ist und beobachte über einen gewissen Zeitraum, dass die Bahn augenscheinlich ähnlich zähe Entscheidungsprozeduren zur Vergabe der Verrichtung solcher Reparaturarbeiten zu haben scheint wie die städtische Verwaltung, was dazu führt, dass diese für uns alle so wichtige Anzeigetafel in ihrem defekten Zustand verbleibt. Aber wir wissen ja jetzt alle, dass die S-Bahn vom Sondergleis 1a fährt und gehen geschickt, gekonnt, weltmännisch und ohne zu zögern zum Gleis 1a. Läuft. Und während ich heute wie nun schon seit mehreren Tagen auf dem dem Sondergleis 1a zugehörigen Bahnsteig stehe und mich freue, wie ich allwissend die Bahn und ihre Abfahrtspläne kenne, dass ich selbst anderen als Informationssäule dienen kann, ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass die Bahn heute ganz schön spät dran ist und dass die Leute da drüben auf der anderen Seite auf Gleis 1 mich ganz schön doof anglotzen. Und als deren Bahn losfährt, spüre ich Neid in mir aufsteigen. Ich schaue der Bahn sehnsüchtig hinterher und muss die am Ende des Zuges angebrachte Leuchtschrift mit der auch für meine Bahn relevanten, kompletten und korrekten Zeichenfolge „S3 L – Connewitz“ lesen. Ein kurzes Zucken durchfährt mich, das mich einen nach Sicherheit suchenden Blick auf die Anzeigetafel werfen lässt, um zu sehen, dass da nichts geschrieben steht. Nichts. Ich bin durchgefallen. Versagt am Flexibilitätstest der Bahn. Am frühen Morgen. Was soll dieser Tag noch bringen? Ich bin wieder in meine Anfänge als Pendelazubi zurückkatapultiert. Sei wachsam, Junge. Sei wachsam. Und lerne.