Story: „Geduldüben“

„Ihre Geduld wird auf die Probe gestellt, aber Sie erreichen Ihr Ziel.“ – (weiser chinesischer Spruch aus einem Glückskeks, erhalten nach einem fulminanten Sushi-Mal (japanisch) beim Vietnamesen)

Während ich hier im Bus sitze und meinem leider einfältigen mitreisenden Nachbarduo, dem ich aufgrund des Platzmangels, der Enge im öffentlichen Nahverkehr und der scheinbar gleichen Route nicht entfliehen kann, bei seinen ins Fantastische abdriftenden Rechenübungen lauschen darf, über die sie sich selbst bestens amüsieren, da sie auf immer neue Ergebnisse kommen, schweifen meine Gedanken kurz ab und denken: Geduld. Geduld.

Ich übe mich seit einiger Zeit in Geduld. Eine höchst qualvolle Übung. Da mache ich eigentlich lieber Planks, Squads, Liegestütz – wofür mir nicht der bestimmt heutzutage völlig üblich genutzte englische Begriff, den man nicht braucht, da es ja einen deutschen dafür gibt, man ihn dennoch benutzt, weil es sportlicher oder vitaler, vielleicht moderner, aber bestimmt nicht weltgewandter wirkt, einfällt – seitliche Planks, Russian Twist, und was weiß ich wodurch ich mich sonst quäle, um mich der Einbildung hinzugeben, dass es mir, meinem Körper und meiner Gesundheit gut tut. Und selbst das tue ich nicht gerne. Nein Geduldüben verbraucht bestimmt am meisten Kalorien von all diesen Übungen. Jedenfalls in meinem Fall. Und diese Übung habe ich heute zur Genüge durchgeführt.

Geduld. duden.de sagt zu Geduld, es sei die „Ausdauer im ruhigen, beherrschten, nachsichtigen Ertragen oder Abwarten von etwas“. Oh, wieviel Geduld ich aufbringen hätte müssen. Ich habe es versucht. Nur der Teil mit dem nachsichtigen, dem beherrschten und dem ruhigen ausdauernden Ertragen oder Abwarten von etwas in der Übung der Geduld will und will mir nicht gelingen. Dennoch mache ich immer mehr Fortschritte.

Besonders schwer fällt mir Geduld, wenn ich sie überraschend aufbringen muss. Unvorbereitet. Aus er Kalten. Und so ist es mir heute ergangen. Ich duldete die lange Anfahrt mittels der öffentlichen Verkehrsmittel. Einfahrt zu einem Routinetermin im Krankenhaus, bei dem meine offene Brusthöhle inspiziert werden sollte. Rohes Fleisch zur Schau gestellt für jeden, der es will.

Eine meiner „beliebtesten“ Übungen in den letzten Wochen und Monaten war, in der Unterhaltung über mein Wohlbefinden plötzlich mit der Frage „Ich hab Fotos davon, willst Du mal sehen?“ hervorzuschießen. Es ist erstaunlich, wie viele tapfer zustimmten, Ablichtungen der Einsichten in meine Brusthöhle zu betrachten. Ich habe das aber nicht als Sozialstudie oder als Mutprobe für mein Gegenüber gemacht. Mir war einfach daran gelegen, eine potentielle Neugier, die womöglich während der Unterhaltung darüber gewachsen ist, wie so eine offene Brusthöhle wohl aussieht, was man sich darunter optisch vorstellen muss, zu befriedigen. Diejenigen, die nicht wollten, ließ ich natürlich sofort zufrieden. Ehrensache.

Weil ich mich unter anderem durch meine Sportübungen in körperlicher Bestvorbereitung für diesen Termin wähnte, war ich umso überraschter, dass ich plötzlich vom von mir sehr hoch geschätzten Chefarzt dazu angespornt wurde, mich für eine Operation am kommenden Montag bereit zu erklären. Es würde der ganzen Wundheilung und dem Fortschritt des Schließungsprozesses der Höhle deutlich guttun. Ich habe selbstverständlich zugesagt. Die Operation und der Krankenhausaufenthalt in der nächsten Woche wären und waren nicht der Rede wert, auch wenn ich mir schöneres von dem heutigen Termin erhoffte als die Aussicht auf und den Entschluss zu einer weiteren Operation. Was allerdings den Auftakt dieser Angelegenheit deutlich Würze verlieh, war ein kleiner Satz, der zu mir herüberflog, begleitet von einem närrischen Augenzwinkern, des bei uns stehenden Oberarztes. „Haben Sie jetzt ein klein bisschen Zeit?“ fragte er mich. Arzthöhrig wie ich bin, eiferte ich: „Ja klar“. Dies was fatal, denn hier begann eine lange qualvolle Übung in Geduld. Geduld.

„Ein klein bisschen Zeit“. Bei der Abbildung von Zeit in Sprache gibt es unzählig viele Dimensionen. Ohne Beispiele nennen zu wollen, komme ich nicht umher in diesem Zusammenhang Spanier oder Südamerikaner zu nennen, die mich haben viel Geduld üben lassen, indem ich auf sie warten durfte. Zeitangaben sind in diesen Kulturen offenbar nur etwaige Richtlinien. Allerdings nicht für einen Zeitpunkt oder eine Zeitspanne, sondern für das Festmachen der Tatsache einer Begegnung oder eines historischen Punktes. Man gibt einen Zeitpunkt für ein Treffen an. Dieser Punkt gilt aber noch nicht einmal als etwaige zeitliche Richtlinie. Nein, er dient nur dem Unterstreichen der Willensbekundung, dass man sich treffen will, denn das Aufkreuzen zum angegebenen Zeitpunkt vollführt nur der Deutsche. Es kann allerdings sein, dass es sich hierbei nur darum handelt, den Deutschen vorzuführen, was mir gerade, während ich diese Worte niederschreibe, auffällt und auch wirklich nicht unwahrscheinlich ist, wobei ich sogar glaube, dass es sich dabei nicht um Gehässigkeiten handelt, sondern eher um ein liebevolles Abklopfen von Stereotypen, die der eigenen Unterhaltung beim Ankommen am Treffpunkt dient „haha haha, der Deutsche war wieder mal pünktlich“. Ich reiste auch einmal mit einer Französin und drei Polen durch Frankreich. Eher durch den Norden Frankreichs. Aber die Französin wollte unbedingt einen Abstecher nach Paris machen, wo sie „eine Kleinigkeit“ zu erledigen hätte. Es dauere alles zusammen nur „cinq minutes, environ“, also fünf Minütchen, ungefähr. Die Polen, die der Pünktlichkeit und dem Einhalten zeitlicher Angaben und Versprechen ebenso wenig abgeneigt waren wie ich, sollten mit mir zusammen, angekommen am besagten Einsatzort der Kleinigkeit, am Auto warten. Warten. Das Nachschlagen des Wortes Warten im Duden erspare ich mir hier, denn Warten hat sehr viel mit Geduld zu tun, weswegen ich es vorziehe, beide Begriffe unter den Begriff Geduld zusammenzuziehen. Ich will hier auch nicht allzu tief in diese Geschichte eintauchen, denn sie kann quälender Bestandteil eines eigenen kleinen Büchleins sein, das ich auch schon eine Weile im Sinn habe. Deswegen kürze ich ab. Wir sahen sie nur kurz auf dem Weg vom Auto ins Gebäude. Dann eine gefühlte Ewigkeit – besonders das Warten am Auto, und das kann mir bestimmt jeder Leser bestätigen, ist ausgesprochen, herausragend, explizit quälend – nicht mehr, bis sie mit wehenden Händen und den flotten Worten „cing minutes, environ“ an uns vorbeirauschte und in ein anderes Gebäude huschte, in dem sie sich wieder lange Zeit vor dem Feind versteckte, denn so kamen wir uns vor. Wie Feinde, vor denen man im Schützengraben in Deckung gehen muss, um ja nicht gesehen und dann womöglich gefangen genommen werden kann. Warum sollte sie sich sonst so lange unserer Gegenwart entziehen? Diese Übung vollbrachte sie noch ein paarmal bis mehrere Stunden vorüber waren und unser Reiseplan neu berechnet werden musste. Auch andere Episoden meines Aufenthalts in Frankreich sprechen diese Sprache, sodass ich zum Schluss kommen musste, dass es also auch die Franzosen sind, die Zeit mit Leichtigkeit auf ihren Herzen tragen und sich nicht in quälende Bande begeben, jedenfalls solange andere warten dürfen. Den drei Polen und mir sollte dieses Ereignis jedenfalls eine Lehre gewesen sein und so nahmen wir uns auf der weiteren Reise in Acht vor etwaigen Angaben und Versprechen und bewiesen uns als immer geschickter werdende Vereitler solcher zeitlicher Verzögerungsversuche.

Nun spielt sich aber die Geschichte, die ich hier erzähle, ja unter Deutschen in Deutschland ab, das Land der Pünktlichkeit. Das Land der immer Korrekten. „Deutschland“ und „exakt“ sind im Ausland Synonyme. Aber im Arzt-Zeit-Kontinuum herrschen solche Kriterien wie Pünktlichkeit nicht, denn hier geht es um die Sache. Hier geht es um Leben und Tod. Gerade bei dem hier erwähnten Krankenhausbesuch wurde ich vom Anästhesisten auf meine Frage hin, ob ich denn bei dieser Operation sterben könnte, was lediglich eine Scherzbemerkung war, in wüstentrockener Präzision und Ausführlichkeit darüber aufgeklärt, dass grundsätzlich jeder ärztliche Eingriff tödlich verlaufen kann. Ich bereute diesen kleinen Zwischenruf, denn der Arzt hatte bereits sehr viel meiner Geduld in Anspruch genommen. Und so wird im ärztlichen Bereich schnell aus „wenn Sie eine Stunde Zeit haben, können wir das jetzt gleich machen“ ein Gesamtaufenthalt von zweieinhalb Stunden, oder aus „ein klein bisschen Zeit“ ein Aufenthalt von fünf Stunden, die ich mich von Station zu Station, vor Arzt zu Arzt, von Pfleger zu Bürofachangestellter gedulden musste. Eine Tortour. Mein Hirn brannte. Mein Hirn brennt. Immer noch. Denn die Überraschung hatte mich hart im Griff. All diese Stationen meines Aufenthalts bedeuteten Warten – Geduld. Und davon habe ich doch so wenig. Ich muss damit haushalten. Für mich, für meine Lieben, für meinen Hund, für Begegnungen im öffentlichen Raum.

Und da sind wir auch schon bei des Pudels Kern. Denn nach dieser Odyssee von insgesamt sechs Stunden, einer Anreise von einer Stunde und dem erstmaligen Warten von einer halben Stunde, stand nun die Rückfahrt an. Und damit erneutes Warten, Gedulden. Und das, wo ich doch schon lange aus der Übung war, was das Fahren mit dem öffentlichen Personennahverkehr angeht. Homeoffice, Corona-Lockdown, Aussätzigkeit usw. haben mich verweichlicht. Und nun bin ich hier. Allem wieder ausgesetzt. Nahezu ohne Schutzschild. Und werde weiter auf die Probe gestellt. Der Bus kam pünktlich, was auch wenn es nicht so wirkt, doch erwähnenswert ist. Busse scheinen also das deutsche Zeitversprechen einzuhalten. Nach nur wenigen Stationen hatte sich der Bus allerdings schon durch den Berufsverkehr so angefüllt, dass ich meinen Rucksack auf den Schoß nehmen, meine Schultern, um meine Nachbarin nicht ans Fenster zu quetschen, hochziehen und dem überaus lauten Gespräch eines Pärchens, das neben mir über den Gang saß, lauschen musste. Bereits als sie einstiegen, befanden sich die beiden schon in dieser hitzigen Unterhaltung und ich hoffte, sie würden sich nicht neben mich setzen, was sie dann leider nicht berücksichtigten. Ich bin kein Menschenfeind. Zu meiner Verteidigung muss ich einbringen dürfen, dass sich starke Kopfschmerzen androhten, da das stundenlange Geduldüben und die Stationstortour im Krankenhaus meine Nerven stark strapazierten und mich vergessen ließen, etwas zu trinken. Ich konnte es aber nicht mehr ändern. Die beiden wählten die Plätze neben mir aus, was gewiss keiner Arglist, sondern dem enormen Platzmangel im Bus entsprang. Anfänglich versuchte ich dem Gespräch keine Aufmerksamkeit zu schenken, aber schon nach kurzen fing ich Diskussionsfetzen auf, die keinen Reim ergaben, was mich leider veranlasste, den beiden Trompetenstimmen etwas genauer zuzuhören.

Die folgende Konversation ist bis auf wenige Ausnahmen von Sprachlichen Fehlerhaftigkeiten, der Lesbarkeit zuliebe weitestgehend bereinigt. Nur Weniges erhielt ich, damit sich das Bild entsprechend zeichnen lässt. Der Versuch der Abbildung des halleschen Dialektes, beziehungsweise dessen Unterart, derer diese beiden sich bedienten, im Geschriebenen, mag dem einen oder anderen vom Fach ungeeignet erscheinen, dient aber ausdrücklich der originalnahen Wiedergabe dieses Gesprächs und zeugt von meiner Liebe zum Halleschen. Ich selbst habe mir den Dialog mehrmals laut vorgelesen und kann bezeugen, dass es recht nah rankommt:

„Du mussd meor dringn, habch dor jesachd.“

„Abor ich dringe doch.“

„Ja, abor nich jenuch.“

„Na, du hast jesacht, ich soll viel dringn.“

„Richtch.“

„Und das du ich nu.“

„Ja abor has‘ du denn noch zwei für mich?“

„Ich hab vieor.“

„Wie ganns‘ du dennnoch vieor haam?“

„Na ich hab‘ ’n Sigsbäck jekoofd.“

„Na dann ganns‘ du doch nuor noch zweie haam.“

„Nee ich habe vieor.“

„Die hadd zuviel Zucker. Das is schlechd. Das is schlachd füor dich.“

„Überhaupd, warum willsd du zweie, wenn du vieor haam willsd?“

„Ich will vieor!“

„Abor gerade hassde doch noch zweie haam wolln!“

„Ich will vieor! Hassd du dennnoch vieor?“

„Ja.“

„Abor du hassd doch gerade noch jesaacht, dass du viere jedrungn hasd.“

„Hab ich ooch.“

„Abor dann gannsd Du doch keene viere meor haam!“

„Hab ich abor. Ich habe a Sigsbäck jekooft und habe vieor jedrungn.“

„Da hasde aber nur noch zweie.“

„Der Zuckor is füor dich jenauso schlecht wie füor mich.“

„Ja, richtch. Abor du tringsd zuviel.“

„Aber jerade hasd du doch noch jesachd, das ich nich jenuch dringe.“

„Du dringst zu viel vom Zuckor. Hasde nu noch vieor?“

„Ja.“

„Das jehd doch jarnich.“

„Doch!“

Hier begann mein Geduldfaden schon erst Risse zu zeigen. Die beiden drehten sich offensichtlich im Kreis und wollten das unbedingt auf dem Rücken der Mitreisenden austragen. Wer gewinnt den Nerventanz? Wer gibt als erstes auf und bricht zusammen. Einer der beiden oder einer aus dem Publikum?

„Abor dann has‘ du nich jenuch jedrungn.“

„Doch. Vieor.“

„Sach, wees‘ du überhaupt welches dadum wior denn heude haam?“

„Na, den zwölfden Märds.“

„Mensch, heude is der sechsundzwndichsde Januar. Wieso weesde dennnich welcher Dach heude is.“

„Heude is Middwoch, siehsde?“

„Richtich.“

„Siehsde?“

„Nee Mann, heude is nich Middwoch, heude is Freidag. Du bringsd mich ja jandz durcheinandor.“

„Deswejen hadd meine Chefin mich heude ooch beiseide genommen und zusammengeschissn! …“

Nun wurde es mir zu bunt. Erste Fäden brannten mir schon durch. Ich musste wissen, womit ich es zu tun habe. Ich wollte aber keinesfalls, dass die beiden mitbekamen, dass ich mich nach ihnen umdrehen würde. Also bemühte ich die List, des unverfänglichen aus dem Fensterschauens und Erblickens einer Besonderheit, die es mir erlaubt, meinen nach vorne gerichteten Blick mit deren Vorbeiziehen langsam um neunzig Grad nach links zu wenden, um damit dann einen Blick auf das Pärchen zu gewinnen. Ich erspähte also einen Anschein von Nichts durchs Fenster und folgte dem stoisch mit meinem Kopf, bis ich die beiden neben mir im Blick hatte. Ich stellte meinen Fokus von fern auf nah und war erstaunt, denn die vermeintliche Frau war ein Mann und der vermeintliche Mann war eine Frau. Die Stimmen passten quasi invers zu den Personen. Beide waren hochgradig beleibt und vereinnahmten achtzig Prozent des Raumes, den das Viererabteil bot. Die anderen beiden Reisen verschwanden nahezu unter deren Erscheinungen. Es handelte sich offensichtlich um Vater un Tochter. Der Vater schien sich um seine Tochter zu sorgen, dass sie wohl nicht genug trinke. Wie lieb. Ich war wirklich gerührt, denn vom Belauschen des Gespräches her konnte ich nicht darauf schlussfolgern, auch wenn der Wortlaut darauf hinwies. Der Ton war ein anderer. Wie man sich manchmal täuschen kann.

„… Der zeig ichs. Das lass ich mir nich biedn. Das saach ich dir. Die griegd noch was zu hörn von mir. Schade, dass mir da nich gleich was einjefalln iss. Aber nächsdes mal.“

„Na das will ich sehn. Du machsd ma lieber nüschd, sonsd gannsde dior gleich was andres suchn.“

„Nee, die brauch mich. Hm. Eijendlich nich.“

„Ich weiß ja nich. Lieber ruhig bleim. Aber ich hab dior doch jesacht, dass ich vieor haben will. Wieso hasde denn nur noch zwei?“

„Ich habe dior doch jesaachd, ich habe noch vieor…“

Hier traf mich ein kleiner Gedankenblitz. Warum hat er sie denn gefragt, welches Datum wir denn heute hätten. Diesen Gedanken lies ich allerdings genauso schnell los, wie die beiden es getan hatten. Die nervenzerreißende Konversation befand sich ja in windeseiligem Vorwärtsschritt und ich wollte keinesfalls den Faden verlieren.

„… Ich hab doch vieor.“

„Neeeeeeiiiiiiin.“

Vater schien die Geduld zu verlieren. Lachte aber dabei herzlich. Ich verstand die Welt nicht mehr.

„Ich hab a Sigsbäck jekooft und habe vier jedrungn. Also sind noch vieor übrig.“

„Neeeeeeeiiiiin.“

„Doooooohoooooch.“

„Innem Sigsbäck sindoch sechse dinne. Un‘ wenn du viere jedrungn hasd, dann sind da nur noch zweie dinne.“ Daraufhin schweifte der Blick der Tochter ab, um den philosophischen Gedanken, die beim Versuch der These des Vaters eine rechnerische Chance zu geben, in ihrem Kopf Saltos auf einem Drahtseil vollführten, mit der hinter Congnacschwenkern versteckten Optik zu folgen.

Mittlerweile hörte der ganze Bus zu. Es war spannend, wie die beiden diese Krux aufzulösen versuchten. Ich rechnete schnell noch an einer Hand nach, was es bedeutet ein Sixpack zu kaufen, davon vier zu trinken, um dann noch vier zu haben. Ich war nie gut in Mathe. Und auch jetzt kam ich nicht drauf. Also schnell weiter hinhören. Meine Geduld war beinahe am Ende. Aber ich kann die beiden nicht aus dem Fenster werfen, ohne vorher zu erfahren, was das Geheimnis ist.

„Du weesd doch, ich wollde auch vieor haam.“

„Hab ich doch.“

„Aber als ich jesachd habe, du sollsd meor dringn, hieß das doch nich Fanda. Wessde wieviel Zuckor dadrinne ist? …“

„Aber ich dringe ja nur zweie am Daach.“

„… Da mussd du bald mit Insulinspritzen anfangen, und was weeß ich noch.“

„Nee das brauch ich nicht.“ lachte sie aus ganzem Herzen und laut in den Bus hinein.

„Hasde dennnoch zweie füor mich?“

„Ich denge da is zuviel Zuckor drinne! …“ lachte sie nochmals aus ganzem Herzen. Ihr Vater wirkte ein wenig verzweifelt. Ob es allerdings an der Tatsache lag, dass sie nicht verstand, dass das Ganze sehr gesundheitsschädlich ist oder ob es eher dem geschuldet war, dass er nicht genügend abbekommen würde, war nicht klar zu erkennen.

„… Ich hab noch vieor.“

Offensichtlich war die Tochter mit einer Matheschwäche gestraft, die sich gewaschen hatte. Ich begann das Gespräch langsam nicht mehr amüsant zu finden, da ich es meiner Geduld zuliebe gern gesehen hätte, dass es von der Stelle kam, als es doch nochmal eine neue Wendung nahm.

„Aber hasde nich jesaachd, das wäre Zidrone? Fanda is doch Orange. Zidrone ist Schbreid.“

„Wirklich? Ich dachde, ich hadde Fanda Zidrone.“

„Nee, Fanda is Orange und Schbreid is Zidrone.“

„Wirklich? Ich dachde, ich hadde Fanda Zidrone.“

„Nee, is Orange. Gannsde mior gloom.“

„Wirklich? Ich dachte, ich hatte Fanda Zidrone.“

AAAAAAH … Nun wurde es mir zu viel. Meine Geduld war am Ende und ich war auch nicht sicher, ob es denn nicht von Fanta auch eine Zitrone gebe, die dann eben einfach nicht so orange gefärbt, sondern eher gelb gefärbt ist … STOPP! Ich implodierte nun, ertappt beim selber Mitraten bei einem Thema, was mich nicht im entferntesten interessierte. Was eine solche Situation aus einem macht. Zwanzig Minuten durfte ich dieser eloquenten Konversation lauschen. Zwanzig Minuten Geduldüben. Zwanzig Minuten, die härter waren als die Stunden zuvor im Krankenhaus.

Als wir endlich am Umsteigepunkt angekommen waren, fühlte ich wie in mir reines, pures, kindliches Glück aufstieg. Ich würde erlöst werden. Auf der restlichen Fahrt würde ich einen anderen Platz suchen. Die Straßenbahn würde mehr Platz bieten. Und so tat ich es auch. Ich antizipierte, die beiden wären lauffaul und würden die erstbesten Plätze an der ersten offenen Tür nehmen. Und so ging ich einfach eine Tür weiter und installierte mich dort. Und ich behielt recht. Die beiden stiegen durch die erste Tür ein und nahmen die erstbesten Plätze in deren Nähe ein und führten dort ihr Gespräch fort. Laut und in kreisenden Gedanken.

Aber warum bin ich nur eine Tür weitergegangen? Warum nicht ans andere Ende des Wagens, wo ich sicher sein konnte, nichts von deren Gespräch, nicht einmal deren Stimmen zu hören? Stattdessen hier, wo ich immer noch Gesprächsfetzen aufschnappte. Welcher Teufel steckte in mir, dass ich mich selber so quälte?

Aber das war es nicht. In mir schlummert eine gute Seele. Ich begann mich also ein wenig zu entspannen, fühlte in mir aber eine Art Verantwortung den beiden gegenüber aufsteigen. So als ob ich mich bereithielt, ins Gespräch einzuspringen, wenn sie ins Stocken gerieten, sich zu sehr verhedderten oder um sie zu verteidigen, wenn andere die beiden durch Ruherufe ungezogen zur Raison bringen wollten. Aus der Ferne waren die beiden lustig anzusehen. Sie alberten nicht, das war offensichtlich. Ihre Unterhaltung war ernster Natur. Dennoch lachten sie über ihre Missverständnisse. Die beiden waren so amüsiert von sich selbst, dass es aus der Ferne die reinste Wonne war, ihnen bruchstückhaft zu folgen, die sich zur Bizarrheit verzogenen Gesichter der vom Regen erwischten, klitschnassen Insta-Queens mit ihren ehemaligen Betonhaaren und nachgemalten Augenbrauen zu beobachten, die pikierten Gesichter der Öko-Moms und -Dads, die sich so offen und tolerant geben, zu inhalieren, zu genießen, wie diese beiden wie eine Insel im Fluss vom Wasser umspült werden. Nur das Pärchen ist scharf. Alles andere verwischt in der langen Belichtungszeit. Meine Kopfschmerzen sind abgewandt. Ich höre, wie die beiden zur Lösung kommen, sie kauft einfach noch ein Sixpack. Meine Geduldsübung war erfolgreich. Ich kann jetzt nachhause gehen. Die Bahn kommt an meiner Haltestelle an. Ich steige aus und bleibe noch so lange stehen, bis sie wieder anfährt und winke den beiden innerlich Aufwiedersehen.

Beklommenheit im S-Bahnsitz 2021

Ich wende mich ab und weiß, was ich zu tun habe. Es ist seit langem wieder soweit. Ich beginne zu schreiben …

Es ist ein Tag wie jeder andere. Fast. Heute fahre ich mal wieder mit der S-Bahn rüber nach Leipzig. Eine Rarität, die sich aus einer Mischung aus Widerwillen und Freude zusammensetzt. Überraschenderweise läuft alles glatt. Ich schaffe meine Bahn. Die Bahn fährt pünktlich ab. Auch das ist eine Rarität. Der Onlineticketkauf hat auch funktioniert. Ich hatte Netzabdeckung. Stadt. Geht noch. Alles ist gut.

Nachdem ich mich in meinem Sitz niedergelassen habe, nehme ich mein Buch zur Hand und beginne dort weiterzulesen, wo ich heute früh um fünf Uhr aufgehört habe, um noch ein paar Minuten vor dem Aufstehen zu schlummern. Nach einer Weile spüre ich eine gewisse Steifheit in meinem Nacken, eine unbewusste Verkrampfung im Schulterbereich. Zieht es wieder? Angst macht sich breit. Ich bin im Alter des Zuges angekommen. “Ich habe Zug bekommen.” ist einer meiner gefürchtetsten Sätze, da sie Ausdruck nachhaltig unüberwindbarer Schmerzen sind, die nur durch Bettruhe, die mir zwar während einer Arbeitswoche zu passe käme, aber nicht gerade heute, zu beheben sind. Ich spüre um mich und kann keinen Zug, nicht einmal den geringsten Lufthauch wahrnehmen. Nein, Zug habe ich nicht.

Unbescholten wie ich bin, beginne ich mich umzuschauen, da sich meine Erstarrung nicht lösen will, und erblicke zwei Sitze und eine Gangbreite rechts von mir entfernt einen jungen Mann, der sich wie ein Affe mit animalisch gekrümmten Fingern beidhändig, zehnfingrig den Hals auf und ab kratzt. Einen Augenblick nur – aber einen Augenblick zu lang – verharrt mein Blick bei diesem zoologischen Schauspiel, das einen tiefroten Hals und aus ihren Höhlen tretende Augen zur Kulisse hat, bis ich mich von mir selbst ertappt fühle und für meinen eigenen Geschmack viel zu schnell, hastig und kantig in mein Buch drehe. Das Buch, das ich ab jetzt nur noch sehe. Das Buch, das ich nun nicht mehr lese. Meine Augen wandern auf den Seiten von rechts nach links und dabei langsam Zeile für Zeile nach unten, ziehen dabei aber nur noch die Druckerschwärze, nicht doch die Buchstaben, Wörter und deren Bedeutung in mich hinein. Zwischendurch wandert mein Blick durch die Peripherie meiner Augen wieder nach rechts. Der Kopf bleibt starr auf das Buch gerichtet, als würde ich es lesen. Meine Augen gehören nicht mehr zu mir. Sie sind entkoppelt. Jetzt kratzt er seinen Unterarm. Seine Klauen krankhaft gekrümmt, verwinkelt, die Nägel in die Haut gepresst als wolle er seine Haut abstreifen. Hoch runter hoch runter. Der Arm wird gedreht. Jetzt ist die Unterseite dran. Hoch runter hoch runter. Armwechsel. Hoch runter hoch runter.

Mir schnürt sich die Kehle bei den Erinnerungen an die Berichte vom vermehrten Auftreten der Krätze in unseren Breitegraden zu. Ist Krätze durch die Luft übertragbar? Sitze ich wieder einmal direkt unter dem Luftschlitz der Klimaanlage, die mir sonst immer eine Lungenentzündung bereitet und habe seine Krätze schon inhaliert? Rechts abgesaugt, links ausgespuckt. Er gibt, ich nehme. Habe ich hier schon etwas angefasst? Ich gehe gedanklich meine Handgriffe beim Besetzen des Platzes durch. Ich kann mich beruhigen. Ich habe nichts außer mich selbst angefasst. Nun gut, das mag jetzt eigenartig klingen. Lassen wir das … Ich habe nichts in der Bahn angefasst, das ist was zählt.

Mein Blick wandert wieder beruhigt von letzterem Gedanken aber dennoch nervös über die Buchseiten. Mechanisch blättere ich eine Seite weiter. „Ich muss das alles wieder zurückblättern“, denke ich. „Merke Dir, wo du warst!“ Umrisse in meiner rechten Blickecke zeigen wie sich der Körper des jungen nicht ungepflegten, doch auch nicht überhygienisch aussehenden Mannes, im Sessel streckt, um die Hüfte zu heben. Das Becken nach oben. Mein Körper lehnt sich ungewollt weiter nach links. Weiter von ihm weg. Mein Kopf bildet nun bald einen Fettfleck, einen Schweißfleck an der Fensterscheibe. Seine Hand wandert unter das T-Shirt und kratzt nun die Bauchdecke. Quer. Von Flanke zu Flanke. Ich spüre nahezu, wie der Bauchnabel, durch die sich tief in die Bauchdecke grabenden Finger, aufgerissen wird und des Mannes Frühstück zutage tritt.

Ein Jucken im Nacken manifestiert sich. Jetzt auch der Rücken. Hypochonder. Da ist nichts. Das bildest Du Dir nur ein. Die letzten eineinhalb Jahre der ständigen Angstinjektion haben bei mir Wunder gewirkt und zeigen sich nun in ständiger Infektionsgefahrermittlung.

Ruckartig, nahezu krankhaft, krampfhaft fährt sein Becken wieder auf den Sitz. Er beugt sich vor. Jetzt ist der untere Rücken dran. Wäre er nicht stumm, hörte man ihn vor Erleichterung und zeitgleicher Peinigung stöhnen. Er schmeißt sich gegen die Rückenlehne. Sein Kopf reckt er gen Wagenhimmel. Fleht er zu Gott?

Meine Gedanken kreisen um Ansteckung. Niemals Bauchfrei Bahnfahren. Du kriegst die Krätze. Als Kind haben wir das gesagt, wenn wir uns aufregten, wenn etwas nicht geklappt hat. Heutzutage hat dieser Satz einen bisher ungeahnten Wahrheitsgehalt.

Ich versuche mich wieder auf mein Buch zu konzentrieren. Die Zugfahrten sind die wenigen Momente, in denen ich nicht todmüde lesen und somit die Texte besser aufnehmen kann. Und tatsächlich hat mein Verstand meinem Körper klarmachen können, dass alles in Ordnung ist. Kratzen ist normal. Kratzen ist gut. Kratzen TUT gut. Ja…, wie gerne kratze ich mich. Hier und da. Auf den Rippen, unterm Fuß, zwischen den Schulterblättern. Zwischen den Schulterblättern. Erlösung. Oben und unten. Kreisförmig. In langen Bahnen. Ja, diese Erleichterung. Das Nachspüren. Die gut durchblutete Haut. Neulich habe ich von meinem Orthopäden Kratzen verschrieben bekommen. Damit soll ich meinen Tennisellbogen behandeln. Ist das nicht klasse? Kann man seinen Tennisellbogen durch Kratzen der Bauchdecke, des Rückens und des Halses behandeln? Wer weiß, was man durch Kratzen dieser Stellen alles behandeln kann. Kratzen ist jedenfalls in Ordnung, auch wenn es, wie von meinem Mitfahrer, in der Bahn durchgeführt, obszön anmutet. Ich lese. Alles gut. Meine Gedanken sind jetzt wieder beim Buch.

Ich spüre, dass rechts Ruhe eingekehrt ist. Eine unbewusste Kopfdrehung, wahrscheinlich nur eine letzte Prüfung, die mir Gewissheit verschaffen soll, dass auch wirklich alles in Ordnung ist, eröffnet mir nun den Blick in ein Geschehen, das mein soeben verspeistes Frühstück in Bewegung setzt. Aufwärts. Wie ein Bergsteiger. Langsam und qualvoll. Des jungen Mannes linke Hand wandert am vormaligen Ziel, dem Hals, vorbei zum Kopf. Stoppt auf Kinnhöhe. Ein Stückchen höher. Die Lippen öffnen sich. Der Unterkiefer wird leicht hervorgefahren. Die unteren Schneidezähne stellen sich aus wie die Krallen einer Mistgabel. Erst kommt der kleine Finger dran. Der Nagel steht hervor und die unteren Schneidezähne fahren wie ein gut geschärfter Schneeschieber darunter, um den von den Unterarmen, von der Bauchdecke, vom verschwitzten unteren Rücken, vom Hals aufgesammelten Belag zu bewegen, zu schieben, zu einem kleinen Haufen, um anschließend von den oberen Scheidezähnen in perfekt koordinierter Maschinenchoreografie in die Mundhöhle befördert zu werden. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie der Haufen nun die verschiedenen Zwischen- und Fallstationen im Inneren des Apparats durchläuft. Die Lippen schmecken nach. Der Ringfinger kommt als nächstes dran. Mittelfinger. Zeigefinger. Nun kommt die Rechte. Ein zweites Frühstück. Ich blicke zu lange hinüber, bis ich feststelle, dass, wenn ich weiter bei diesem zweifelhaften Genuss zusehe, ich selbst bald ein zweites Frühstück haben werde. Sauer. Bitter.

Ich wende mich ab und weiß, was ich zu tun habe. Es ist seit langem wieder soweit. Ich beginne zu schreiben …

Gespräch bei Radio Corax nachhören

Am vergangenen Montag, war ich bei Radio Corax zum Gespräch über mein Buch „Hier komm‘ ich – Bahnfahren & andere Zerreißproben“ eingeladen. Das Interview kann man hier nachhören.

Ich habe mich sehr über die Einladung gefreut und es war auch tatsächlich ein schönes Gespräch. Nur leider hört man es mir an, dass ich ein bisschen übernächtigt gewesen bin. Dennoch wünsche ich viel Spaß beim Nachhören.

Bahnfahren und andere Zerreißproben

Vielen Dank an Radio Corax

Der Flexibilitätstest

Intellektuelle Stimulation ist äußerst wichtig für die Vitalfunktionen des Gehirns. Dazu gehört auch die stete Prüfung der Flexibilität. So kam die Bahn auf die Idee, die S-Bahn, die stets von Gleis 1 fährt – oder soll ich fuhr sagen – nun vom Sondergleis 1a fahren zu lassen. Wer den Bahnhof in Halle kennt, wird wissen, wovon ich rede. Aber für alle anderen sei gesagt, er ist nicht durch einfaches Umdrehen und Zwei-Meter-Gehen auf die andere Seite der Plattform zu erreichen. Stattdessen sieht man perfiderweise über das leere eigene Gleis auf die gewünschte S-Bahn, ohne zu wissen, dass es die ist, die dazu bestimmt ist, einen aus der morgendlichen Winterkälte vom zugigen Bahnsteig in ihre wohlige Wärme beplüschter Sessel aufzunehmen und in das gut beheizte Büro zu transportieren. Und während man sich darüber ärgert, dass die eigene Bahn noch nicht einmal am Horizont zu sehen ist, schaut man neidisch verträumt der so lang betrachteten Bahn mit all den Menschen darin – von denen manche einen mit weit aufgerissenen Augen anstarren und sich mehr oder weniger aufgeregt und amüsiert unterhalten, während sie ihre Blicke immer wieder auf mich und die anderen beiden hier auf dem Bahnsteig werfen – beim Ausfahren nach und erblickt am Ende des Zuges ein Leuchtschild, das erstaunlicherweise alle Buchstaben und Zahlen in der korrekten Reihenfolge geordnet zeigt, die die eigene Bahn zeigen sollte „S3 L – Connewitz“ und verspürt plötzlich tiefe Trauer über die wertvollen Minuten, die man unnötig zu früh aufgestanden ist und zu lange hier noch herumstehen werden muss. Sicher, der geübte Blick hätte auf der Anzeigetafel auf dem Bahnsteig die auf blauem Hintergrund in einem fetten weißen Block hervorgehobene Zusatzinformation „Fährt heute von Gleis 1a“ lesen können. Sicher hätte das einfache, nicht in Gedanken und Überlegungen versunkene Gemüt die wiederholten Lautsprecherdurchsagen mit dem selben Hinweis und dem Signalwortzusatz „Achtung“ hören können. Aber der eingefleischte, der professionelle, der Vollblutpendler guckt, liest und hört nicht. Er weiß. Und dieses Wissen kann auch seinen Preis haben. Und der Preis, den ich an diesem einen Morgen zahlte war, dass ich zusammen mit den beiden anderen Profis zum Gespött der gut gefüllten und höchst amüsierten Bahn geworden bin, die gerade abfuhr und weitere 20 Minuten in der Kälte warten durfte.

Nach einigen lockeren professionellen Gesprächen mit Schaffnern stellt sich heraus, dass das Gleis 1a wohl jetzt immer genutzt werden soll. Aber ich bin lernfähig, denn seit jenem Tage traue ich niemandem mehr und schaue, sobald ich am Bahnhof ankomme, auf die Anzeigetafel und halte Ausschau nach eben dieser Zusatzinformation und zeige mich jovial, indem ich borniert und stur auf Gleis 1 zulaufende Ignoranten darauf hinweise, dass die Bahn vom Sondergleis 1a fährt. Nach einer Weile bemerke ich, dass die Anzeigetafel am Aufgang zum Gleis defekt ist und beobachte über einen gewissen Zeitraum, dass die Bahn augenscheinlich ähnlich zähe Entscheidungsprozeduren zur Vergabe der Verrichtung solcher Reparaturarbeiten zu haben scheint wie die städtische Verwaltung, was dazu führt, dass diese für uns alle so wichtige Anzeigetafel in ihrem defekten Zustand verbleibt. Aber wir wissen ja jetzt alle, dass die S-Bahn vom Sondergleis 1a fährt und gehen geschickt, gekonnt, weltmännisch und ohne zu zögern zum Gleis 1a. Läuft. Und während ich heute wie nun schon seit mehreren Tagen auf dem dem Sondergleis 1a zugehörigen Bahnsteig stehe und mich freue, wie ich allwissend die Bahn und ihre Abfahrtspläne kenne, dass ich selbst anderen als Informationssäule dienen kann, ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass die Bahn heute ganz schön spät dran ist und dass die Leute da drüben auf der anderen Seite auf Gleis 1 mich ganz schön doof anglotzen. Und als deren Bahn losfährt, spüre ich Neid in mir aufsteigen. Ich schaue der Bahn sehnsüchtig hinterher und muss die am Ende des Zuges angebrachte Leuchtschrift mit der auch für meine Bahn relevanten, kompletten und korrekten Zeichenfolge „S3 L – Connewitz“ lesen. Ein kurzes Zucken durchfährt mich, das mich einen nach Sicherheit suchenden Blick auf die Anzeigetafel werfen lässt, um zu sehen, dass da nichts geschrieben steht. Nichts. Ich bin durchgefallen. Versagt am Flexibilitätstest der Bahn. Am frühen Morgen. Was soll dieser Tag noch bringen? Ich bin wieder in meine Anfänge als Pendelazubi zurückkatapultiert. Sei wachsam, Junge. Sei wachsam. Und lerne.